Uraufführung Neue Musik
Fünf Stücke um den Fluss zu queren (2012)
Charlotte Seither, eine der renommiertesten Komponistinnen weltweit, ist Composer in Residence im Begleitprogramm der Evangelischen Kirche Kurhessen-Waldeck zur dOCUMENTA 13 in Kassel. Vom 17. Juni bis 5. September 2012 ist in insgesamt 10 Konzerten eine Retrospektive mit 23 Werken der Komponistin zu hören, darunter vier Uraufführungen.
Eine der Uraufführungen sind die „Fünf Stücke um den Fluss zu queren“, die Charlotte Seither für das sinfonisch besetzte Schulorchester des Wilhelmsgymnasiums komponiert hat. Seit März 2012 erlebten und gestalteten die meisten der 65 Schülerinnen und Schüler erstmals Neue Musik und haben am 5. September 2012 in der Martinskirche Kassel das Werk zur Uraufführung gebracht.
Christine Hallaschka zur inhaltlichen Erarbeitung
Du stellst meine Füße auf weiten Raum (Ps 31, 9)
Als ich meine Schülerinnen und Schüler des Grundkurses Ev. Religion der Q3 im letzten Jahr fragte, was sie im Moment am meisten beschäftige, kamen zunächst unterschiedliche Antworten: Familie, Freunde, das eigene Ich, Schule, Geschehnisse in der Welt – diese ganz breit gefächerten Themen spielten im letzten Jahr vor dem Abitur eine große Rolle in ihrem Alltag. Bei näherem Hinsehen wurde jedoch schnell deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler diese Themen vor allem unter dem Blickwinkel von Abschied und Neubeginn betrachteten.
Was kommt nach dem Abitur? Welchen Weg schlage ich beruflich ein? Wen lasse ich privat zurück? Wen verliere ich, eventuell sogar für immer? Wer tritt dann an seine Stelle? Was passiert in der Welt, und wie werde ich damit umgehen, wo kann ich mich persönlich einsetzen? Du stellst meine Füße auf weiten Raum – dieser Psalmvers verdeutlicht sehr gut, wie viele Möglichkeiten, aber eben auch, wie viele Unwegsamkeiten auf die Schüler nach dem Abitur warten. So kurz vor einem neuen Lebensabschnitt drängen sich Fragen und Sorgen geradezu auf. Diesen Fragen einmal Antworten, diesen konkreten Ängsten einmal Worte und eine Stimme geben zu können, diese Möglichkeit hatten wir in dem Projekt mit Charlotte Seither und Eckard Manz. Viele Gedanken wurden geäußert und zum Teil auch niedergeschrieben, viel wurde erzählt, diskutiert und gegenseitig bewertet. Ist Deine Angst auch meine Angst? Ist Dein Lebensziel auch meins? Bist Du sicher, dass Du mit diesen Gedanken einen guten Weg einschlagen wirst? Auch wenn wir nicht alles klären konnten – es einmal auf den Tisch zu bringen, tat allen gut und hat uns als Kurs eng zusammengeschweißt.
Ich bin sehr dankbar, dass dieses Projekt in der hektischen, entscheidenden Schulphase des Abiturs möglich war und wir Raum und Zeit dafür bekamen. Ebenso bin ich dankbar, dass ich persönlich als Lehrerin an diesem Projekt teilhaben und vor allem zuhören durfte. Die überwältigenden Gedanken unserer Schüler haben mich tief bewegt und berührt und mich auch inspiriert, das Fach Ev. Religion gerade in der Phase des Abiturs als wirklich lebenstauglich wahrzunehmen. Ella schreibt in der Reflexion zum Projekt: „Dieses Projekt war für mich eine ganz neue Erfahrung, die über jedes Unterrichtsgespräch hinaus ging. Ich konnte etwas für mich mitnehmen, eine Erfahrung fürs Leben." Und Paul bestätigt dies: „Die Diskussion mit Charlotte Seither war für mich sehr intensiv und jenseits der normalen Schulerfahrung interessant."
Ich danke Eckard Manz für die Idee und besonders Charlotte Seither für ihre Arbeit mit uns. Sie hat uns am Projekttag mit sehr viel Engagement und Interesse begleitet, und ich bin sehr gespannt, nun ihre musikalische Interpretation unserer Zusammenarbeit hören zu können – und das auch noch gespielt vom Orchester unserer Schule! Und ich freue mich für unsere Schülerinnen und Schüler des Kurses, die diese einmalige Gelegenheit zu einer solchen Zusammenarbeit toll genutzt haben und nun nach bestandenem Abitur einen neuen Weg einschlagen werden. Welchen, kann ich nicht vorhersagen, aber wie es schon der Psalmbeter wusste: Du stellst meine Füße auf weiten Raum! Und er beendet sein Gebet mit den hoffnungsvollen Worten: Seid getrost und unverzagt alle, die ihr des Herrn harret! (Ps 31,25)
Christine Hallaschka
Christopher Hilmes zum musikalischen Prozess
Ein Schulorchester setzt über zur Neuen Musik
Anmerkungen zum Produktionsprozess
Das Schulorchester des Wilhelmsgymnasiums besteht derzeit aus 65 Schülerinnen und Schülern der Jahrgangstufen 6 bis 13, die wöchentlich zu einer Probe zusammenkommen. In diesem Rahmen erleben und gestalten die meisten der Schülerinnen und Schüler seit März 2012 erstmals Neue Musik: „Fünf Stücke um den Fluss zu queren“ ist von Charlotte Seither für das sinfonisch besetzte Schulorchester komponiert worden.
„In diesem Werk bewegen sich die Schüler auf voll gültigem Terrain der Neuen Musik, es verkleinert nichts. Warum auch sollte man die Inhalte eines solchen Stückes herunter schrauben, nur weil Schüler spielen? Die Jugendlichen stehen hier vor einer beachtlichen musikalischen Aufgabe und sie lösen sie mit Kreativität und Engagement. Ich bin der Meinung, dass Musik für Kinder oder Jugendliche in ihren Inhalten absolut kompromisslos sein muss. Nur so können wir ihnen wirklich gerecht werden“. (Charlotte Seither)
Die Komposition setzt an zwei Punkten an der Arbeit mit Schülerinnen und Schülern an: Thematisch waren im Vorfeld des musikalischen Erarbeitungsprozesses die Mitglieder eines Abitur-Religionskurses unter der Leitung von Christine Hallaschka aufgefordert, Aspekte zu diskutieren, die sie mit der Formel „Weg mit Abschied“ inhaltlich verbinden. Nach einem intensiven Austausch, an dem auch die Komponistin selbst teilnahm, flossen diese in die Komposition mit ein, wenn auch nicht titelgebend.
„Mit dem Titel des Stückes, den ich erst Monate später, kurz vor Abschluss der Komposition fand, verband sich schließlich der Wunsch, einen darüber hinaus reichenden Zustand zu beschreiben, der auch außerhalb unseres Projekts Gültigkeit besitzen sollte. Im Verlauf dieses Kompositionsprozesse wurde mir der Titel immer vertrauter und geriet mehr und mehr (auch) zum Motto meines Komponierens.“ (Charlotte Seither)
Bei der Komposition selbst waren einige Vorgaben zu berücksichtigen, die ihre Gründe in der besonderen Situation eines Schulorchesters haben: Die instrumentaltechnischen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler sind ganz unterschiedlich ausgeprägt, trotzdem gilt es, fortgeschrittene Spieler ebenso einzubinden wie Schülerinnen und Schüler mit weniger Erfahrung auf dem Instrument. Hinzu kommt, dass die Komposition eine sinfonische Besetzung fordert, die grundsätzlich zwar im Schulorchester des Wilhelmsgymnasiums gegeben ist, wenngleich sie auch nicht die übliche Balance der Instrumentengruppen aufweist: Wo auf der einen Seite beispielsweise Holzbläser chorisch besetzt werden können, sind andere Instrumente nur einfach vertreten, z.B. der Kontrabass.
Diese schulischen Rahmenbedingungen berücksichtigend, hat das Projekt trotzdem keinen Fokus in dem Sinne, sich über einen vordergründig schnell zu erzielenden Klangeffekt bei Spielern und Publikum „populär“ zu machen, sondern setzt vielmehr in Produktion wie Rezeption auf Reibung und konstruktive Widerständigkeit, formuliert an sich selbst einen Anspruch, mit dem es umzugehen gilt.
Ein besonderes Privileg ist dabei die Situation, die Komponistin während einiger Proben zu Gast zu haben, in denen Frau Seither die Idee ihres Stückes erklären, Klangvorstellungen anschaulich beschreiben und präzise technische Anleitungen geben konnte, so dass größere Strukturen sichtbar und Sinnhaftigkeit für alle transparent wurde. Im Verlauf der Probenarbeit entwickelte sich dabei eine ganz eigene Dynamik: das jeweils nächste neue Stück wurde mit Spannung erwartet, die irritierenden Klänge amüsiert bestaunt, das fremde Instrumentarium erkundet, besondere Momente erlebt beim ersten Durcharbeiten durch ein gänzlich unerhörtes Stück.
„Ich entschied mich für eine fünfteilige Form, in der jedes der Stücke von einem scharfen Klangbild gezeichnet ist. Jeder der Sätze sollten auf einer individuellen Klangkonstellation beruhen, die ausdrucksstark nach außen gerichtet ist, die aber dennoch eine Hinwendung (auch) nach innen möglich macht. Den üblichen Orchesterinstrumenten fügte ich schließlich auch mehrere Gruppen von Geräuschemachern zu, durch die der Orchesterklang zusätzlich „verräumlicht“ wurde. Gleichwohl sind auch die Geräuschfelder präzise auskomponiert und erfordern eine intensive musikalische Ausführung. Das Stück verfügt über eine detailliert auskomponierte Struktur und hat eine klare Form. Es versteht sich nicht als „Vertonung“, sondern beschreibt vielmehr einen Zustand als Ganzes.“ (Charlotte Seither)
Die Umsetzung insgesamt erfordert von den Schülerinnen und Schülern ein ungewöhnlich hohes Maß an Konzentration, weil auf periodische Strukturen verzichtet wird und nahezu jeder Takt anders gestaltet ist als der vorangegangene. Instrumente, die sonst immer Teil einer recht großen Stimmgruppe sind, müssen nun Abschnitte zum Teil gänzlich eigenverantwortlich und solistisch gestalten, so dass ganz neue Kommunikationsformen innerhalb des Ensembles notwendig werden (z. B. in den aleatorisch angelegten Klangfeldern). Der Anspruch an die jeweilige Klanggestaltung ist unkonventionell und fordert ungewöhnliche und fremde Spieltechniken, die erst ausprobiert und eingeübt werden müssen. Dabei ist es insgesamt weniger der technische Anspruch der jeweiligen Einzelstimmen, der den Probenprozess vor besondere Herausforderungen stellt, sondern vor allem das präzise Zusammensetzen, Abmischen und Formen, um die strukturellen Beziehungen und minutiösen Details der Komposition angemessen herauszuarbeiten.
Diese technisch-handwerklichen Details treten aber alle in den Hintergrund angesichts der einmaligen Erfahrung, dass die Schülerinnen und Schüler des Orchesters Musik nicht nur reproduzierend erleben, sondern aktiv an einem Schöpfungsprozess teilhaben dürfen, der in einer Uraufführung mündet. „Fünf Wege um den Fluss zu queren“ ermöglicht den Schülerinnen und Schülern damit eine genuine Erfahrung schlechthin: musikalisch zu neuen Ufern aufzubrechen und die Grenzen zur Neuen Musik zu überwinden.
Christopher Hilmes
Christopher Hilmes, Lehrer für Musik und Deutsch, leitet das Orchester seit 2000, gemeinsam mit Margit Neumeyer und Maria Weber-Krüger.
- HNA-Bericht zur Erarbeitung von Charlotte Seithers Werk
- Interview in Jerome von Georg Pepl: "Musik ist überragend kreativ"
- Rezension von Marie Luise Maintz in "[t]akte"
- Rezension von Georg Pepl in "Neue Musikzeitung"
- HNA-Rezension vom 31.08.2012: "So muss ein Abgrund klingen" / "Etwas Einmaliges, das zu erleben"
- HNA-Rezension vom 07.09.2012: "Großes Fest der Klänge"
- Rezension in "VivaVoce"
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