Für die Stasi waren schon die Kinder Staatsfeinde!

Zu dieser bitteren Erkenntnis gelangte Hartmut Wolters, als seine und eine befreundete Familie bei einem Fluchtversuch in Ungarn scheiterten. In einem spannenden Zeitzeugengespräch erzählte Herr Wolters, Jahrgang 1945, den angehenden Abiturienten von seinem Leben in der DDR.

Schon in seiner Kindheit wich Herr Wolters von der sozialistischen Norm ab. Er wurde konfirmiert und sein Vater weigerte sich, in die SED (= Sozialistische Einheitspartei der DDR) einzutreten. Das kostete den Vater eine leitende Stellung in der Stadtverwaltung in Dresden. Und dem Sohn war der Weg zum Abitur versperrt. Selbst eine Lehrstelle war nur mühsam zu finden. So entstand schon früh ein distanziertes Verhältnis zum Staat. Nach der erfolgreichen Flucht des Bruders in den westlichen Teil Deutschlands wurde das Leben für Herrn Wolters nicht leichter. Um DDR-Bürger von einer Flucht abzuschrecken, waren Haftstrafen, Wegnahme der Kinder und Repressalien für die ganze Familie üblich. Trotz dieser Drohkulisse entschied sich das Ehepaar Wolters mit ihrer zweijährigen Tochter zur Flucht über Ungarn. Eine befreundete Familie mit ihrem zehnjährigen Sohn machte mit.

In der Nacht Aufbruch vom Campingplatz. Vorsichtiges Schleichen in Richtung Grenze, durch ein Rapsfeld robben, dann endlich der Grenzzaun! Ein Schnitt durch den Draht – Alarm. Kurz darauf Signalraketen. Festnahme nur 300 Meter vor dem Ziel. Zurück in Ost-Berlin Haft. Wegnahme der Kinder. Die Ehepaare getrennt ohne Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Endlose Verhöre. Schon früh entschied sich Herr Wolters für Klarheit: Er bereue nichts und werde den Fluchtversuch wiederholen – wenn er noch mal die Möglichkeit dazu hat. Ein großer Vorteil in dieser Situation war für ihn, dass der Bruder von seinem Schicksal erfuhr. Er arbeitete inzwischen als Staatssekretär in einem Ministerium und schaltete den auf solche Fälle spezialisierten Anwalt Dr. Vogel ein.

Es kam zu einer Gerichtsverhandlung. Nach weiteren Verlegungen und gut vier Monaten die Erlösung: EK! Das Kürzel steht für Entlassungskandidat. Aberkennung der Staatsbürgerschaft und dann der Tag der Entlassung: Mit dem goldfarbenen S-Klasse Mercedes von Dr. Vogel ging es nach West-Berlin. Am Straßenrand in Ost-Berlin Tausende mit „Winkelementen“ ( DDR-Fahnen). Aber nicht für Herrn Wolters. Ein Staatsbesuch stand an.

Im Westen konnte Herr Wolters sich endlich so entwickeln, wie er es wollte. Er ging zur Polizei und wurde Kriminalbeamter. Für den Anwalt Dr. Vogel war er nur einer von vielen. Insgesamt soll der DDR-Jurist den Freikauf von fast 34000 Häftlingen, häufig Regimegegner oder eben gescheiterte Republikflüchtlinge, vermittelt haben. Ein einträgliches Geschäft für ihn, aber vor allem für die DDR. Insgesamt sollen es 3,4 Milliarden DM gewesen sein, die die DDR, meist in Form von wertvollen Rohstoffen wie Erdöl, Diamanten oder Kupfer, für die Menschen erhielt. Auch den Austausch von Agenten vermittelte Vogel und wurde so zu einer schillernden Figur in den Ost-West-Beziehungen.

Für Herrn Wolters, so seine Antwort auf eine Frage eines Schülers, gab es keine gute Seite an der DDR. Diese Geschichtsstunde bleibt sicher noch lange in Erinnerung. Großer Applaus zum Schluss! Wir danken Frau Dr. Schneider-Seidel, die dieses Zeitzeugengespräch organisiert hat, und natürlich ganz besonders Herrn Wolters, der nicht zum ersten Mal am WG war und hoffentlich auch nicht zum letzten Mal. (Hannah Knost, vlm)

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